Zum 100.Geburtstag von Günter Fruhtrunk (1. Mai 1923 – 12. Dezember 1982)
Ingeborg Flagge
Dem kunstinteressierten Besucher bietet sich in der Bundeskunsthalle und im Bonner Kunstmuseum derzeit die seltene Möglichkeit zwei grundverschiedene Ausstellungen bei einem einzigen Besuch miteinander zu vergleichen, in der Bundeskunsthalle „Die Postmoderne“ und im benachbarten Kunstmuseum „Die Retrospektive Günter Fruhtrunk 1952 – 1982.“
Die „Postmoderne“ ist eine Ausstellung wie aus einer Wundertüte, vielfältig, bunt und ironisch. Es geht ihr um die Gleichberechtigung aller Gestaltung, je wilder und individueller desto besser. Alles ist möglich, anything goes, alles ist gut, alle künstlerischen Maßstäbe und Ergebnisse werden als gleichwertig gefeiert. Mich macht eine solche Einstellung und Überfrachtung an Bedeutung nervös.
Die Fruhtrunk Retrospektive könnte gegenteiliger in Form und Farbe, in Ordnung und Komposition nicht sein. In der Postmoderne Ausstellung soll alles Gezeigte Sinn machen. Auch das Nichtsinnvolle muss unbedingt etwas bedeuten. Fruhtrunk dagegen will wie viele Künstler der Moderne die Kunst „befreien“. Freiheit ist bei ihm aber nicht als „Spiel von Beliebigkeiten“ zu verstehen, „auch nicht als Selbstverwirklichung“, wie Hanno Rauterberg schreibt. Kunst soll für sich selbst stehen, berechenbar und von rationaler Klarheit sein. Es sind nüchterne Menschen wie der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Aufklärer Jürgen Habermas, die Fruhtrunks Arbeiten lieben.
Typisch für Frühtrunks Kunst sind klare Linien, geometrische Formen und kontrastreiche Farben. Seine Bildersprache ist von ungemeiner Präzision. Alle Linien scheinen entlang einem Lineal gezogen, und das mit Pinsel und Farbe. Bei diesen abstrakten Kompositionen aus schrägen Linien, Streifen, Gittern oder unterschiedlich breiten Balken und diagonalen Geraden von einer Geometrieverliebtheit zu sprechen, wäre entschieden eine Untertreibung. Denn diese Linien und Schrägen sind akribisch komponiert, fast trickreich, aber kaum sichtbar variiert. Farben und Linien ergänzen einander und bestärken sich gegenseitig. Aufgrund dieser durchaus als optische Täuschungen gedachten Variationen sind Fruhtrunks Arbeiten keine langweiligen Geometrien, sondern geraten in Bewegung, sie vibrieren und flimmern und fordern einen aktiven Sehvorgang. Das Auge wird ungemein beansprucht und muß sich immer wieder einer bloß passiven Betrachtung entziehen. Bei der Aufspürung kleinster Variationen und scheinbarer Inkonsequenzen wird das Auge zum Detektiv.
Aus welchem Winkel immer man die Bilder Fruhtrunks ansieht, immer verlängert das Gehirn die Linien und Balken über den Rand der Bilder hinaus. Insofern ist die Interpretation Hanno Rauterbergs mehr als verständlich, wenn er bemerkt: „ Nein, das sind keine Streifen. Es sind Spuren einer grossen, nicht fasslichen Bewegung“. Die brillante Retrospektive und kluge Hängung ist dreigeteilt. Die erste zeigt das wenig bekannte Frühwerk Fruhtrunks zwischen 1950 und 1954. Relativ kleine Formate zeigen nichts von der späteren geometrischen Brillanz seines Werkes. Vielmehr schweben geometrische Formen als Rechtecke, Kreise und geknickte Stangen im freien Raum. Bilder und Motive stellen getrennte Ebenen dar. Der zweite Teil zeigt die strenge und verwirrende Schönheit der faszinierenden Schräglage der Fruhtrunkschen Bilder und ihre eigenständige Farbgebung. Im dritten Teil lösen Felder und Flächen die Streifenstruktur auf und die harte Präzision strikter Linien beginnt auszufransen und sich zu lockern.
Fruhtrunk war kein glücklicher Mensch, was seine Bilder nicht verraten. Aus dem 2.Weltkrieg hatte er eine Hirnverletzung davon getragen, die ihn zweimal in den Selbstmord trieb. Das zweite Mal war erfolgreich. Fruhtrunk arbeitete eine Zeitlang bei Ferdinand Léger, dessen sachliche Art, Bilder zu komponieren, ihm lag. Auch die konkrete Kunst eines Hans Arp erschien ihm eine Zeitlang verlockend. Eigentlich aber war er ein Einzelgänger, misstrauisch und für den kommerziellen Nutzen seiner Kunst nur schwer zu gewinnen. So entschuldigte er sich bei seinen Studenten für die „schwere Sünde“, daß er nämlich 1970 für Aldi eine Einkaufstüte entworfen hatte, die gut bezahlt wurde und ihn bekannt machte. Die zweite Sünde, nämlich für Rosenthal Porzellan entworfen zu haben, verzieh man ihm leichter. Fruhtrunk ist vielen Menschen unbekannt. Nach dem Besuch seiner Ausstellung kann man das kaum fassen, so attraktiv und verwirrend schön sind seine strengen Kompositionen.