Florenz 2011: mit Ingeborg Flagge unterwegs

„Ihr habt Euch die vielleicht anspruchsvollste Stadt Europas ausgesucht. Und eine der meist besuchten. Aber auch eine der eindrucksvollsten.“ Das schrieb uns Ingeborg Flagge im Mai, nachdem sie eine Erkundungsreise in unser „Fernziel“ unternommen hatte. Sie sollte Recht behalten. Eindrucksvoll war sogar noch das Wetter mit seinen mehr als 20 Grad und nur so viel Regen, dass der Kauf auch nur eines Regenschirmes genügte  und es stellte sich wieder Sonne ein für den Rest der Reise.
Die kleine Pension Johanna  (Hotel wäre zu viel gewesen) hatte eine so heimelige Atmosphäre, dass man durchaus im Badetuch und mit Turban auf dem Kopf zur “Fönausleihe” in die andere Etage huschen konnte. Man begegnete nur den Schwestern, so klein ist “Johanna” mit ihrem wunderbaren Frühstückstisch – wie bei einer Schwester konnte man sich dort fühlen. Die erste Begegnung mit der Renaissancestadt führte uns natürlich zum Baptisterium, „dem Hüsken neben dem Dom“ – so hatte Ingeborg es von einer unbedarften Touristin aufgeschnappt. Lange bevor das Baptisterium erbaut wurde, gründete sich Florenz nach römischem Muster, was  heute noch in der Anlage  des Platzes La Republica  erkennbar ist. Diese rechtwinklige Straßenführung  wirkt streng, sodass Ingeborg hier schon den Unterschied zu Venedig anführt: Florenz ist bodenständig, herb, eben völlig anders in der Anmutung.
Die Paläste,  die in der Zeit der Renaissance entstanden, waren einer strengen Ordnung unterworfen. Es galt mehr zu repräsentieren, als zu wohnen: Der untere Teil des Hauses wurde nach außen mit rustikalen Quadern wehrhaft verblendet, hier waren Lager oder Geschäfte. Darüber im 1. Stock große Fenster, dahinter lichte Säle. Darüber, im 3. Stockwerk, wurde gewohnt. Kurzum: im Mittelpunkt standen Prunk und Wehrhaftigkeit! Gestenreich  und von hoher Fachkenntnis begleitet, gestalteten sich die Führungen Ingeborgs  im Speziellen:
So erfuhren wir, dass die Zunft der Wollweber eine der stärksten im Rat der Stadt war und  soziale Errungenschaften durchgesetzt hatte wie kaum andere Stadtstaaten für ihre Bürger. Florenz war früheste Republik! Aber die Wollweber machten den Fehler, den ersten Medici  zum  Primus inter pares, also zu ihrem Kopf zu machen. Wir reden über die Mitte des 14. Jahrhunderts!
Es dauerte nicht lange und die Medici hatten das Zepter in der Hand und es entwickelte sich eine Familienherrschaft, die schon bald nach Festigung und Erhalt dieser Macht gierte. Militärische Kräfte sollten sie  und die Vormachtstellung Florenz´ sichern. Ein Engländer namens  John Hawkwood schien für eine solche Auseinandersetzung geeignet, verlangte  indes dafür so viel Sold, dass die Medici sich gezwungen sahen, zur Geldbeschaffung eine Bank zu gründen und mit Staatsanleihen  gezielt dieses Söldnerheer zu finanzieren. Aus der ehemals medizinisch orientierten Familie entwickelten sich ein mächtiges Bankunternehmen und damit einhergehend auch ein großes Repräsentationsbedürfnis. Vor diesem Hintergrund erkennt man in Florenz eine der seltenen Städte, wo das Gesamtkunstwerk  Skulptur, Malerei und Architektur in Zusammenhängen erdacht und entwickelt werden konnte.
Ein fruchtbarer Boden für Michelangelo z.B., dem schon mit 26 Jahren ein  überlebensgroßer Marmorblock anvertraut wurde, aus dem er seinen „David“ schuf. Die Loggia die Lanzi auf dem Platz vor der Signoria gehört zu den architektonischen Zeugen aus der Zeit der Platzanlage am Palazzo Vecchio. Im Dom von Florenz, den wir am zweiten Tag der Exkursion von innen kennenlernen, begegnen wir  wieder John Hawkwood, dem Anführer des Söldnerheeres, der als übergroßes Wandbild Verehrung fand. Die Stadt, nicht die Kirche hatte den Dombau initiiert und an die Stelle einer kleinen Kirche, die abgerissen wurde, gebaut.

Der Dom sollte das größte europäische Gotteshaus werden. Die Kuppel kam später von Brünelleschi dazu. Lange hatte er gebraucht, sie als raffinierte doppelschalige Konstruktion umzusetzen, denn so eine gewaltige Haube hatte seit 1000 Jahren keine statischen  Vorbilder. Brünelleschi, so erfahren wir von Ingeborg, hatte lange Zeit in Rom den Kuppelbau des Pantheon studiert – trotzdem dauerte es 16 Jahre bis zur Vollendung. Während die Stadtväter den Dom als strengen und schlichten Gebetsraum von großer Räumlichkeit angelegt hatten, bekam er durch die Cupola etwas Spektakuläres, vor allem etwas Repräsentatives.
Es dauerte nicht lange und die gesamte Platzanlage wurde modernisiert. Der selbstbewusste Bürger von Florenz wollte jetzt flanieren und sich zeigen, erläutert Ingeborg,  er brauchte mehr öffentlichen Raum. Im angrenzenden Dom-Museum konnte jeder ins Detail gehen. Allein Donatellos Holzstatue der Büßerin Maria-Magdalena und eine berühmte Pietà von Michelangelo  (mit ihm im Selbstportrait) rechtfertigen den Besuch. Zurück auf den Platz: das Baptisterium fällt aus dieser Zeit heraus, denn es stand ganze 400 Jahre früher bereits hier. Achteckig und mit einer Kuppel, die nur von innen sichtbar wird, deswegen hielt man es für einen antiken römischen Bau. Die Florentiner wussten zu Renaissance-Zeiten wenig über das Baptisterium, vermochten es kaum einzuordnen, weil sich Zitate aus germanischer, frühchristlicher, byzantinischer und frührömischer Zeit mischen. Jeder Besucher, der seine Augen zunächst an die Dunkelheit gewöhnt hat, macht dieses Gemisch aus und kann das nachvollziehen. Es ist großartig und magisch zugleich und  zeigt mit jedem Lichteinfall eine weitere Facette. Unweigerlich treffen wir in der Stadt auf die wuseligen Stände des Marktes von San Lorenzo, der zunächst nur als Markt-Halle vorhanden war und frische Lebensmittel der Region präsentierte. Heute  reicht er mit seinem Angebot bis an die Kirche von San Lorenzo , deren Fassade nie vollendet werden sollte.
Keine  Frage, dass nach so viel Geschichte am Morgen, profane Gelüste nach den Produkten des zeitgenössischen Handels, die Mittagszeit in Anspruch nehmen. Wer nicht den Verführungen des non-food-Bereichs erliegt, geht den kulinarischen Angeboten der umwerfenden Markthalle auf den Leim. Köstliche toskanische Schweinereien und ebenso gute Weine locken an die stilvollen Verkaufsstände. Draußen im Trubel der lauten und von Windböen durchlüfteten Handelsunternehmen wird heftig gefeilscht, sagt Ingeborg. Aber die meisten von uns kommen über ein paar eingesparte  lächerliche Euro weniger nicht hinaus. Vielleicht, weil uns die Preise so niedrig erscheinen. Glaubt doch jeder zunächst an gelungene Lederfälschungen !  Aussichtsreicher erscheint  trotzdem folgende Wette: Wer kommt hier ohne den Kauf einer Handtasche weg? Klären wir am Ende.
San Lorenzo ist schnell besichtigt: der große Sakralbau wurde von Brunelleschi in Grau Weiß fertig gestellt, er integrierte eine 800 Jahre alte Kirche. Im Ergebnis: Kühle Perfektion, wenig Emotion – alles scheint in einem idealen Bild-Zahlen-Verhältnis  zu stehen. Die angrenzende „Alte“ und „Neue Sakristei“ entwirft er noch, Michelangelo vollendet sie.
Von bleibendem Eindruck dürften in der „Neuen Sakristei“ seine  vier Skulpturen sein, die auf zwei Sarkophagen „lagern“: es sind Stein gewordene Vertreter von  „Morgen“ und „Abend“, „Tag“ und „Nacht“ – sehr ausdrucksstark in dem von Michelangelo auch entworfenen Innenraum. Alles nach Maß, der Zeit geschuldet.
In der  Galerie der Akademie ist Ingeborg Flagge wieder ganz in ihrem Element. Dort wo die „Sklaven“ von Michelangelo sich kraftstrotzend aus dem Stein zu winden scheinen, steht auch das Original des „David“ in Sichtweite. Sie macht auf die krassen Gegensätze von des Künstlers unterschiedlichen Arbeiten aufmerksam und erklärt anschaulich, wie man sich Michelangelos Technik besser vorstellen könne: “Er beginnt an der erhabensten Stelle des Steins und arbeitet sich auf dem liegenden Stein voran – so, als läge der Rohling in einer gefüllten Badewanne, aus der langsam das Wasser weicht.“ Bevor der Stein gewendet werde, höre er auf. Im Ergebnis bleiben Reste des  Steins, die die „Sklaven“ zu sprengen scheinen. Genial erklärt!
Die Anatomie hat damals sehr interessiert, das bezeugen solche Kunstwerke. Die Renaissance wollte eben alles ergründen. Das wird an vielen Stellen der Kunst, der Naturwissenschaften  und in der Philosophie  bemerkbar und sichtbar. Die Bibliotheca Laurentiana, die wieder von Michelangelo 1545 entworfen wurde, war eine – für damalige Zeiten völlig ungewöhnlich – öffentliche Bildungseinrichtung, in der jeder, der lesen konnte, in  den vorhandenen Schriftrollen  lesen konnte. Einen Eindruck von den Inhalten der Handschriften zeigt heute eine Ausstellung, die im Anschluss an den prunkvollen Leseraum Einsicht in die vordringlichen Themen der Zeit bietet.
Die Chirurgie und ihre Fortschritte in Zeiten der Schlachtfeldmedizin zum Beispiel. Der Anblick haarsträubender Schraubzwingen, mörderischer Amputationswerkzeuge und überdimensionaler Zangen  beschleunigen den Gang durch diese Abteilung der Geschichte.
Nicht unterschlagen will ich den Besuch der künstlerischen Keimzelle florentinischer Malkunst: Das Kloster von San Marco. Hier haben die Brüder, an der Spitze Fra  Angelico, mit spiritueller Inbrunst ihr Talent eingebracht. Jede Zelle in dem wunderschönen Dormitorium ziert eine Szene aus dem Leidensweg Jesu. Aber noch bevor man die erste Zelle  erwartungsvoll betritt, läuft man auf eines der bekanntesten Gemälde aller  Verkündigungsszenen, nämlich des von Fra Angelico  zu. Dass in diesem Gebäude auch Savonarola die letzten Stunden vor seinem Tod auf dem Scheiterhaufen  betete, lässt sich gut vorstellen, wenn man die Zelle des Abtes betritt. Er hatte zur Blütezeit des ausschweifenden Lebens in Florenz  Umkehr und Buße gepredigt und sogar Botticelli  bewegen können, einige seiner Werke eigenhändig ins „Feuer der Eitelkeiten“  zu schicken.
Das führt uns leicht in die Uffizien, wo Botticellis Kostbarkeiten auf die Florenzbesucher warten: Die „Geburt der Venus“ ist nur eines, der „Frühling“ ein anderes seiner großen Werke. Mit ihm sind die Größen der Zeit präsent, aber auch deutsche Maler der Renaissance, wie Dürer und Cranach. Es gab so unglaublich Vieles zu sehen.
Was nicht in den Uffizien hängt, ist im Palazzo Pitti auf der anderen Seite des Arno zu besichtigen: In einer Art „pathologischen Sammelwut mit starken Ausschlägen nach oben und unten“, scherzt Ingeborg, wurde hier in sogenannter Petersburger Hängung gezeigt, was man hatte. Von Botticelli bis zu den Genremalern seiner Zeit haben es hunderte Werke in die Repräsentationsräume der Medici geschafft.
An diesem Abend bleiben wir auf der „Schälsick“, wie der Rheinländer sagt. Hatten wir doch schon am ersten Abend vorzüglich bei Mama Gina, einem toskanischen Traditionshaus gespeist, ist es hier ein kleines Bistro, was Besonderheiten  auf den Tisch bringt. Nach solchen Tagen sind alle am Abend schnell verschwunden – zu Ausschweifungen neigte unsere Gruppe  nicht mehr – zumal am anderen Tag schon früh der Faden wieder aufgenommen wurde.
Der Bau des Waisenhauses der damaligen Zeit liegt an der Kirche von San Annunziata. Interessant ist die  strenge Platzanlage, die schließlich vom Waisenhaus geprägt wurde. Noch mehr lässt aufhorchen, dass sich hier im ausgehenden 15. Jahrhundert die erste Einrichtung einer Babyklappe befand. Finanziert wurde das Waisenkinderhaus von der Zunft der Seidensticker.
Die Platzanlage mit ihrer schlichten Säulenbogenarchitektur verrät der Kennerin Ingeborg sofort den Künstler: Brünelleschi.
Wir sollen ihm bald wieder begegnen, denn ein schlichter Kreuzgang, der zu Santa Croce gehört, trägt auch seine Handschrift. Der Sakralbau selbst entstand schon  im 13. Jahrhundert.  In dem dreischiffigen Bau mit seinen zahlreichen Kapellen sind vor allem die Fresken von Giotto zum Leben des Heiligen Franziskus von besonderer Erwähnung, aber auch die Grabstätten der Prominenten der Stadt: Michelangelo, Dante Alighieri und später Rossini sind nur einige, die sich gut merken lassen. Ein Holzkreuz von Cimabue aus dem 14. Jahrhunderts wurde  Opfer der Flutkatastrophe von 1966, die Florenz heimsuchte. Stark verzogen und der Bemalung beraubt, ist es noch im angrenzenden Museum zu sehen.
Unsere Führung durch Florenz begann mit einem ersten Treffen vor dem Baptisterium und endete bei San Miniato – ein schöner Rahmen, sind es doch beides Gebäude, die lange vor der Blütezeit der Stadt entstanden.  Wenn sie sich auch im Alter unterscheiden, so sind ihre Fassaden aus gleicher Zeit. Das fällt sofort auf, wenn man sich dem Hügel über der Stadt nähert. Ingeborg kündigt uns das Innere der Kirche als einen geheimnisvollen Ort an und in der Tat spürt der Besucher sofort die frühchristliche  Atmosphäre, ins Augen springen die kleinen Symbole der Zeit, wie der Fisch, der als Ornament in den Marmorverkleidungen immer wieder auftaucht. Der Blick vom Innern  durch die geöffneten Kirchentüren fällt auf ein sonniges Florenz am Arno-Ufer. Traumschön zum Ende einer intensiven Woche.
Elke und Ingeborg haben noch eine Überraschung im Gepäck. Dazu suchen sie eine geeignete Aussichtsplattform ganz in der Nähe und kredenzen uns die Reste ihres Whiskys, der uns am Ende aber nicht ganz die Sinne vernebelt. Fast vergessen: Die Frage der Disziplin auf offenen Märkten ist noch zu klären. Wer hat widerstanden? Mindestens vier von uns haben keine Handtasche davon getragen! Trotzdem beläuft sich die Bilanz pro Kopf an Handtaschen auf 1,45. Das besagt: einige haben mehr als eine, andere eben keine oder mehr als zwei beim Rücktransport im Gepäck. Über den Durchschnittswert besagter Tagesbegleiter habe ich keine Rechnung mehr angestellt, sind doch auch solche Erinnerungen an Florenz nicht in Euro zu beziffern! (Ute Pauling)